Dichtung als Organon der Religion / Religion als Organon der Dichtung in der
deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts (christliche Tradition) und der Wende vom
19. zum 20. Jahrhundert (jⁿdische Tradition).
1. Die Beziehung zur (christlichen) Religion in der Entwicklung der deutschen Literatur
im 18. Jahrhundert.
Die Beziehung zur Religion war fⁿr die Entwicklung der deutschen Literatur im 18.
Jahrhundert vor allem deshalb fruchtbar, weil auch die Religion selbst dem Spannungsfeld von
Pragmatisierung und Entpragmatisierung unterlag und dabei der Literatur nicht zuletzt durch
deren Indienstnahme den Weg zur UnabhΣngigkeit er÷ffnete. Aus einer im Zuge des
Konfessionalismus verkirchlichten gesellschaftlichen Institution mit ÷ffentlichem Kultus
entwickelten sich vor allem durch die Gruppierungen des (radikalen) Pietismus kirchenunabhΣngigere,
an der individuellen und unmittelbaren Geist-Inspiration orientierte
Fr÷mmigkeitsformen, die dem Autonomiestreben als einem Hauptkennzeichen der AufklΣrung
im Bereich der Religion zum Durchbruch verhalfen und sich - wie schon die Barock-Mystiker -
der poetischen Sprache als wichtigen Mediums ihrer Fr÷mmigkeit bedienten. Der gegen alle
Σu▀ere Fremdbestimmung in das Heiligtum der eigenen Innerlichkeit verlegte Ort der
Gottseligkeit lie▀ sich damit zugleich von der Poesie als Hort der Glⁿckseligkeit, als Organon
privaten Glⁿcks reklamieren. In der vielfachen Usurpation von Inhalt, Form und Funktion
dieser entpragmatisierten ReligiositΣt autonomisierte sich die Dichtung gegenⁿber der Religion
und blieb ihr doch wiederum im Akt der Selbst-Heiligung verwandt (das Genie offenbarte als
inspirierter Prophet seiner [Leser-] Gemeinde seine unhintergehbare Wahrheit, Poetik und
Literaturtheorie legitimierten in der Kategorie des Erhabenen GegenstΣnde der Religion als
Inhalt der Dichtung [Bodmer/Breitinger], Σsthetisierten die Bibel zur Poesie [Herder] und
Klopstocks Messias zum Bibel-Ersatz). Es ist zu untersuchen, ob und worin sich solch
entpragmatisierte Poesie und ReligiositΣt (etwa in den religi÷sen Hymnen Klopstocks,
Goethes, H÷lderlins oder Novalis') noch unterscheiden, wohin sich dieser Proze▀ entwickelt
und ob er unter dem Begriff der SΣkularisierung zureichend zu fassen ist. Die Frⁿhromantik hat
Dichtung und Religion offenbar zum Teil wieder repragmatisiert. Fⁿr Novalis wurde die
Religion nach der Chaos-Erfahrung der Franz÷sischen Revolution erneut zum einigenden
Ferment der Gesamt-Kultur, und der Poesie fiel die Aufgabe zu, diese Einigung durch
vorwegnehmende Mimesis mit herbeizufⁿhren.
Wichtige Forschungsliteratur
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Henrich Reitz' Historie der Wiedergeborenen und ihr geschichtlicher Kontext. G÷ttingen
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Eigene Vorarbeiten (Hans-Georg Kemper, Deutsches Seminar)
Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im SΣkularisierungsproze▀. Problemgeschichtliche
Studien zur deutschen Lyrik in Barock und AufklΣrung. 2 Bde., Tⁿbingen 1981.
Geistliche Liebesspiele. Die Herrnhuter in Bⁿdingen, in: Literarisches Leben in Oberhessen, hg.
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Vielsinnige 'Blumen'-Lese. Zum literarhistorischen Standort Gerhard Tersteegens. In:
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Der Himmel auf Erden und seine poetische Heiligung. SΣkularisierungstendenzen in den
'Freundschaftlichen Liedern' von Immanuel Jakob Pyra und Samuel Gottlob Lange. (Ms.,
ersch. 1995/96).
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'Internationalen Arbeitskreises fⁿr Barockliteratur' Wolfenbⁿttel 1991, hg. von Dieter
Breuer u.a. (ersch. 1995/96).
M÷gliche Dissertationsprojekte
allgemein zu den religi÷sen Implikationen der Literatur-, Poetik- und ─sthetikgeschichte von
der Empfindsamkeit bis zur Frⁿhromantik,
speziell zum VerhΣltnis von ReligiositΣt und ─sthetizitΣt des Gefⁿhls, zur Bedeutung der
neuplatonisch-hermetischen Tradition in Pietimus und Literatur (u.a. bei Shaftesbury,
Dippel, Herder und Novalis),
zur VerhΣltnisbestimmung von Dichtung und Religion in der Frⁿhromantik (Novalis, Fr.
Schlegel, Schleiermacher).
2. Zionismus - Messianismus: die neue (jⁿdisch) religi÷se Orientierung in der deutschen
Literatur der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sowie bei Franz Kafka und Paul
Celan.
Eine neue religi÷se Orientierung findet sich in der deutschen Literatur des frⁿhen 20.
Jahrhunderts, bezogen allerdings nicht auf die christliche, sondern auf die jⁿdische Religion
(daher im deutschen kulturellen Bewu▀tsein bis heute wenig gegenwΣrtig): die Schriften z.B.
von Leo Baeck, Franz Rosenzweig (der Roman
Stern der Erl÷sung
, ▄bersetzungen Jehuda
Halevis), Martin Bubers Nachdichtungen chassidischer Geschichten, die Bibelⁿbersetzung von
Buber und Rosenzweig. Die hier literarisch sich artikulierende vitale ReligiositΣt wie
umgekehrt das Hinⁿberwechseln literarischen Schaffens auf das Feld (wissenschaftlicher wie
politisch-praktischer) Theologie steht aber - und damit gewinnt diese Erscheinung fⁿr den
Komplex 'Pragmatisierung/Entpragmatisierung der Literatur' eminente Bedeutung - im
Spannungsfeld der beiden Pole, in dem sich das Judentum im 20. Jahrhundert im Ringen um
seine IdentitΣt befindet. Der eine Pol ist der Messianismus, die rabbinische Tradition; mit ihm
ist Verharren im Vorgeschichtlichen gesetzt, Leben im Aufschub, das sich der Teilhabe an der
Idee gewi▀ bleibt. Der andere Pol ist der Zionismus, die Hinwendung zur Welt, Eintreten in die
Geschichte, allerdings um den Preis des VerfΣlschens, der Verkehrung des Ideellen. Auch die
zionistischen Grundschriften sind in deutscher Sprache verfa▀t, zugleich Texte, die wie kaum
andere Wirklichkeit geworden sind: Theodor Herzls Manifest
Der Judenstaat
, sodann Herzls
utopischer Roman
Altneuland
, auf den die Stadt Tel Aviv in ihrem Namen anspielt. Das
zutiefst Zweideutige des Messianismus hat Gershom Scholem hervorgehoben: "Die Gr÷▀e der
messianischen Idee entspricht der unendlichen SchwΣche der jⁿdischen Geschichte, die im Exil
zum Einsatz auf der geschichtlichen Ebene nicht bereit war. Sie hat die SchwΣche des
VorlΣufigen, des Provisorischen, das sich nicht ausgibt. Denn die messianische Idee ist nicht
nur Trost und Hoffnung. In jedem Versuch ihres Vollzugs brechen die Abgrⁿnde auf, die jede
ihrer Gestalten ad absurdum fⁿhren." Die religi÷se Orientierung dieser Literatur erwΣchst mit
dem Messianismus und dem Zionismus auf zwei antinomisch zueinander stehenden Feldern der
Pragmatisierung, von denen jedes zugleich als in sich abgrⁿndig erkannt wird. Die 'Figur' aber,
die dieses ganze Spannungsfeld umgreift, als Gestalt oder literarisch-strukturell, ist der
HΣretiker. Das erklΣrt Scholems lebenslange BeschΣftigung mit dem 'falschen' Messias Sabbatai
Zwi (wie Scholem auf der anderen Seite mit seinen Schriften zur jⁿdischen Mystik die messianische
Idee umfassend ausgearbeitet hat); sinnvoll erscheint auch, Walter Benjamins Figur
des 'Engels der Geschichte' in diesem Umfeld neu zu bedenken. Zu fragen ist u.a., wie weit die
Figur des HΣretikers in der genannten neuen religi÷sen Dichtung unterschwellig prΣsent ist,
weiter, inwiefern diese 'Figur' eine neue Dimension der Reflexion religi÷ser Pragmatisierung
er÷ffnet. Weiter ist ein Vergleich mit Entwicklungen in anderen Literaturen angezeigt, z.B.
eine literarische wie philosophische Auseinandersetzung mit den Schriften von Emmanuel
LΘvinas.
An Kafka und Paul Celan als zwei fⁿr die Literatur des 20. Jahrhunderts herausragenden
Beispielen soll das PhΣnomen einer skrupul÷sen und gebrochenen, gleichwohl jedoch
intensiven religi÷sen Orientierung des literarischen Schaffens erforscht werden. Im
Spannungsfeld der Pole 'Zionismus' und 'Messianismus' wird sich ein neuer Zugang zum
VerstΣndnis der Texte wie zur Rezeption beider Autoren ergeben. Am Beispiel Kafkas soll die
Frage der religi÷sen Orientierung rezeptionsgeschichtlich und rezeptionstheoretisch im
nationalen und internationalen Kontext gestellt werden. Die Inanspruchnahmen und
Pragmatisierungen Kafkas im Dienste verschiedenster Weltbilder bis zu religi÷sen Lesarten
sollen gesichtet und im Hinblick auf ihre diskursive Tradition und Gesetzlichkeit bestimmt
werden. Im Zentrum wird dabei nicht zuletzt die Frage nach der Pragmatisierungsleistung von
Interpretation und Textauslegung stehen. Am Beispiel von Werk und Person Paul Celans als
eines exemplarischen Synkretisators religi÷ser Mythologeme im Kontext der Moderne soll dem
'Dialog' (Nelly Sachs) der jⁿdischen und christlichen Mythologie besondere Aufmerksamkeit
geschenkt werden. Auch hier ist der Rⁿckschlu▀ auf die Rezeptionsm÷glichkeit und -
bedingung m÷glich und notwendig.
Wichtige Forschungsliteratur
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Paul Celan, Werke. Tⁿbinger Ausgabe, hg. von Jⁿrgen Wertheimer. Bearbeitet von Heino
Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf.
Sprachgitter
. Vorstufen - Textgenese - Endfassung.
Die Niemandsrose
. Vorstufen - Textgenese - Endfassung.
In Vorbereitung:
Der Meridian
. Endfassung. Textgenese und Vorarbeiten zur Bⁿchner-Preis-Rede in
Zusammenarbeit mit Bernhard B÷schenstein.
M÷gliche Dissertationsprojekte
Die Bibelⁿbersetzung Buber-Rosenzweigs: das 'Gastgeschenk der deutschen Juden an das
deutsche Volk zum Zeitpunkt der Trennung' (G. Scholem).
Interpretationen zu den literarischen Arbeiten von Theodor Herzl, Martin Buber, Franz
Rosenzweig.
Die 'Figur' des HΣretikers in der deutsch-jⁿdischen Literatur des 20. Jahrhunderts.
Methodologische Probleme religi÷ser Kafka-Interpretation.
Jiddisch-hebrΣisch-deutsche IntertextualitΣt.
Celan als ▄bersetzer Mandelstams und Rokeahs.
DialogizitΣt bei Celan, Rosenzweig, LΘvinas und Buber.
Strukturen und Themen des Judentums bei Celan auf der Basis von Textanalysen.